Gruppenausstellung (Wien): José Arnaud-Bello, Luis Felipe Fabre, Sofía Hinojosa, Nina Hoechtl, Natalia Millán,Vicente Razo und Luisa Pardo mit Lagartijas tiradas al sol (in Zusammenarbeit mit Carlos López Tavera, Gabino Rodríguez, Juan Leduc)
Konzept: Julio García Murillo, Nina Hoechtl
Organisation: Julio García Murillo, Sofía Hinojosa, Nina Hoechtl
Die Ausstellung El derecho ajeno I Das Recht des Anderen versammelt künstlerische und dokumentarische Recherchen zu gekreuzten Geschichten von Mexiko und Österreich. Dabei zeigen sich die komplexen politischen Konjunkturen und Mythologien, die diese Geschichten durchziehen.
José Arnaud-Bello beschäftigt sich mit den Masken aus der Populärkunstsammlung der Anthropologin und Sammlerin Ruth Deutsch Lechuga (Wien, 1920 – Mexiko-Stadt, 2004). Im Rudel gegen Prokrustes artikuliert zwei Zustände dieser Sammlung: die akademische, anthropologische Darstellung jeder einzelnen Maske, und den durch Geschmack beeinflussten Blick, der die subjektive Einstellung Lechugas zeigt, in der das „Populäre“ als „neue Heimat im Exil“ erscheint. Ein Blick, der oft mit primitiven Ideologien der euro-amerikanischen Avantgarde beladen ist. Der Titel der Arbeit verweist auf den griechischen Mythos des Riesen, der Reisende in einem Bett unterbrachte (wenn sie zu klein waren, zog er ihnen die Glieder auseinander, wenn sie zu groß waren, hackte er ihnen die Gliedmaßen ab). Diesen Mythos bringt Arnaud-Bello mit der Erfindung des „Populären“ und den Vorgehensweisen, die es formalisieren, in Verbindung. In seiner Installation hinterfragt er die Vorstellungen hinter populären Ritualen (und die Beschaffenheit des komplexen Begriffs „Volk“) im Zusammenhang mit Gesetzgebungen – insbesondere dem Gesetz das 2017 das Tragen von Masken an öffentlichen Plätzen in Österreich verbot.
Luis Felipe Fabre präsentiert den dichterischen Essay A veces pienso que eso que llamamos la literatura no es más que la historia de las malas traducciones I Manchmal denke ich, dass das, was wir Literatur nennen, nichts anderes ist als die Geschichte schlechter Übersetzungen. Sein Text interveniert in Zeitungsnachrichten über aktuelle Konflikte über Migration (von den Reden des Präsidenten der USA Donald Trump bis zu Krisensitzungen der Europäischen Union) und stellt sie der Rede des mexikanischen Juristen, Politikers und Diplomaten Isidro Fabela (Atlacomulco, 1882 – Cuernavaca, 1964) gegenüber, mit der er 1938 vor dem Völkerbund gegen den „Anschluß“ Österreichs an das Deutsche Reich protestierte. Fabre nützt diese Reden, um die Sichtweisen von österreichischen und mexikanischen Dichter*innen in einem Kommen und Gehen von literarischen Migrationen und in Mestizierungen von Genres und Diskursen zu kombinieren. Sie treten an, um Aussagen, die aus der Position politischer Macht getroffen werden, durch die „Unmacht“ der Poesie zu sabotieren.
Die Videoinstallation von Nina Hoechtl Delirio güero I Weißer Wahn. 1825, 2018, 2211 und zurück ist eine dokumentarischer Fiktion über güera/weiße Phantasien, die mit dem Ansatz des kritischen Transvestismus arbeitet. In einem YouTube Video aus dem Jahr 2018, das 2211 gefunden und kommentiert wird, verschränkt Hoechtl unterschiedliche güera Phantasien, die einen kontinuierlichen Diskurs rahmen, der der Herstellung wissenschaftlicher, politischer, ökonomischer und künstlerischer Autorität dient. Die zeitlichen Verschränkungen erlauben eine sowohl kritische als auch humoristische Revision von Leben und Werk historischer Persönlichkeiten. So bearbeitet Hoechtl die Geschichten des imperialen Paars Maximilian von Habsburg (Wien, 1932 – Querétaro, 1867) und Charlotte von Belgien (Brüssel, 1840 – Meise, 1927), der künstlerisch-wissenschaftlichen Arbeiten von Jean-Frédéric Waldeck (Prag, 1766 – Paris, 1875) und Teobert Maler (Rom, 1842 – Mérida, 1917), so wie der Aufenthalte von Hoechtl selbst, und ihrem entfernten Verwandten Anton “Toni” Mayr (Salzburg, 1832 – verschollen in Tamaulipas, 1872), in Mexiko.
Sein Familienarchiv dient Vicente Razo als Ausgangspunkt, um sich mit den Spuren des österreichischen Historikers Friedrich Katz (Wien, 1927 – Philadelphia, 2010) und des Pädagogen Ivan Illich (Wien, 1926 – Bremen, 2002) in Mexiko des 20. Jahrhunderts auseinanderzusetzen. Dabei beschäftigt er sich mit der Verbindung von Katz zur Geschichte der mexikanischen Agrarreform, sowie den von Illich in Mexiko realisierten pädagogischen Vorhaben. Razo präsentiert zwei Projekte: In Landprobleme greift Razo Bilder von post-revolutionären Verlagsprojekten der künstlerischen und literarischen Avantgarde in Mexiko auf und setzt sie mit dem Werk von Katz und seinem eigenen Familienarchiv in Verbindung. Die Arbeit Öffentliche Eigentumsurkunde Nummer 22,958 zeigt Unterlagen und die Statuten des Vereins von Illich und beschäftigt sich mit der Rechtsgrundlage von Illichs Arbeit in den 1970er Jahren in der Stadt Cuernavaca. Razo setzt sich in grafischen Übungen mit den Ideen von Katz und Illich auseinander und befragt dabei in Bezug auf Land und Bildung die Probleme ungelöster Widersprüche zwischen Bild und Gesetz.
Die Theatergruppe Lagartijas Tiradas al Sol präsentieren Im Zeichen des Falschen, das von Luisa Pardo entwickelt wurde und in Zusammenarbeit mit Carlos López Tavera, Gabino Rodríguez und Juan Leduc umgesetzt wird. Die Lecture Performance stellt die gegenwärtige Situation von tausenden von Menschen, die vor unterschiedlichen Formen der Gewalt fliehen und internationalen Schutz suchen, in eine historischen Perspektive. Sie zeigt die heutigen Ereignisse gegenüber der Unterstützung von Flüchtlingen des spanischen Bürgerkriegs und des Nationalsozialismus durch den mexikanischen Diplomaten Gilberto Bosques (Puebla, 1892-Mexiko-Stadt, 1995).
Die speziell für die Ausstellung entwickelten Arbeiten verweisen auf eine Reihe von historischen Ereignisse und sozialen Prozessen, die heute noch äußerst relevant sind. Das kritische Potential der Ausstellung wird durch ein Zitat aus einem der in Mexiko bekanntesten Sätze im Titel der Ausstellung aktiviert: „Unter den Individuen, wie zwischen den Nationen, bedeutet der Respekt vor dem Recht des Anderen Frieden“, heißt es in der Rede des Anwalts und republikanischen Präsidenten Benito Juárez García (1806-1872), als er nach dem Prozess und der Hinrichtung von Maximilian am Cerro de las Campanas in Querétaro nach Mexiko Stadt zurückkehrte. Ähnlich wie der Klang einer Trommel, der zwischen den Arbeiten zu hören ist, dient das Recht des Anderen dem künstlerischen Zugang dieser Ausstellung, um einige unserer zeitgenössischen Konflikte zu erfassen, in denen Recht, Vernunft und gegenseitige Verantwortung zurückkehren, um uns heute in die Augen schauen zu können.
Fotos: Aimée Suárez
El derecho ajeno I Das Recht des Anderen fand im Rahmen von Gekreuzte Geschichten 1938-2018 statt.